Mittwoch, 22. Mai 2019

Anthroposophen eine „Großmacht“ in der alternativen Szene?



Von NNA-Korrespondent Wolfgang G. Voegele
BUCHBESPRECHUNG | Der Religionshistoriker und Steiner-Biograf Prof. Zander hat den Anspruch, eine Kartographie der anthroposophischen Bewegung zu liefern. Wolfgang G. Voegele empfand jedoch das Werk in großen Teilen unzulänglich. 

PADERBORN (NNA) – Im Rahmen des 100jährigen Jubiläums der Waldorfschule sind eine ganze Reihe von Publikationen zum Thema Waldorfpädagogik, ihrer Geschichte und ihrer Grundlagen erschienen. Der Schweizer Religionshistoriker und Steiner-Biograf Prof. Helmut Zander hat das Jubiläumsjahr jetzt offensichtlich ebenfalls zum Anlass genommen, sich erneut mit dem Thema Anthroposophie zu befassen – die Waldorfpädagogik eingeschlossen. 
Der Untertitel seines Buches Die Anthropsophie verspricht eine Darstellung von „Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik“ und der (katholische) Schöningh-Verlag erläutert in einem Werbetext die Intention des Werkes: „Die Anthroposophie ist eine esoterische Großmacht: Waldorfschulen, Demeter-Möhren, Weleda-Heilsalbe, Esoterische Schulen, Universitäten – Helmut Zander dokumentiert ihr öffentliches und zugleich verborgenes Netzwerk.“ Zander versuche – so der Werbetext weiter – die für den Laien schwer überschaubare Welt der Anthroposophen zu kartieren. Offenbar war es die Absicht des Autors, ein populäres, leicht verständliches Werk zu schreiben. ... weiterlesen auf NNA >

Donnerstag, 16. Mai 2019

Quälende Unsicherheiten

 

 

Vortrag über die radikalisierte Gesellschaft im Theater Paderborn


Quälende Unsicherheiten sind zum Kennzeichen unserer Zeit geworden. Viele Menschen fühlen sich von dem rasanten Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen überfordert und wenden sich Extremen zu, die ihnen wieder Klarheit darüber verschaffen, was richtig oder falsch ist und wo der Freund und wo die Feinde stehen. Rassisten, Nationalisten, fanatische Tierschützer, zu allem entschlossene Abtreibungsgegner oder kämpferische Veganisten werden zu einer Gefahr für eine demokratische Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit, Fairness, Solidarität und Kompromissbereitschaft beruht.
Unter dem Titel „Quälende Unsicherheiten. Nährboden für Radikalisierung und Fanatismus“ hält an diesem Samstag um 19 Uhr der Persönlichkeits- und Sozialpsychologe, Prof. Ernst-Dieter Lantermann, im Theatertreff des Theater Paderborn einen Vortrag  über die gesellschaftlichen Folgen einer zunehmenden Radikalisierung in modernen Gesellschaften. Lantermann erforscht seit Jahrzehnten, wie sich Menschen in unsicheren und selbstwertbedrohlichen Situationen verhalten. In seinem 2016 erschienenen Buch „Die radikalisierte Gesellschaft – von der Logik des Fanatismus“ analysiert er soziale und individuelle Bedingungen einer zunehmenden Radikalisierung.

Der Vortrag findet im Rahmen des Aktionstags der Initiative gegen Rechtspopulismus „Die Vielen“ im Theater Paderborn statt zu dessen Erstunterzeichnern das Schauspielhaus am Neun Platz gehört. Im Anschluss gibt es Gelegenheit, mit Prof. Lantermann ins Gespräch zu kommen. Der Eintritt ist frei.

Quelle: Pressemitteilung Theater Paderborn
Foto: Prof. Ernst-Dieter Lantermann ©Alex Schmitt

Montag, 13. Mai 2019

Auf dem Weg zum Algorithmen-Faschismus

Der nachfolgende Beitrag stammt aus dem Aprilheft der anthroposophischen Monatszeitschrift Die Drei mit dem inhaltlichen Schwerpunkt auf Digitalisierung/Neue Mobilfunkstandards/5G etc. Wir veröffentlichen diesen Text mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.


Wie unbemerkt – durch unsere Mithilfe – ein neues totalitäres Herrschaftssystem entstehen könnte


von Otto Ulrich


Zugegeben, es wirkt zunächst befremdlich, den Aufstieg, den bisherigen Verlauf und die Struktur der aktuellen Debatte um »Künstliche Intelligenz«, die »Digitale Revolution« und die »Gesellschaft 4.0« einmal durch eine ganz spezielle Brille, nämlich unter faschismustheroretischen Vorzeichen, zu betrachten – es ist aber dringend geboten. Denn es geht um nichts geringeres als den Schutz unserer Demokratie, unserer Freiheit und unserer Rechtsstaatlichkeit. Die anwachsende Herrschaft »intelligenter« Maschinen, die uns zunehmend abschaffen, gängeln und kontrollieren, bedroht alles, was unsere Gesellschaft menschlich macht.

Leider wollen viele Zeitgenossen diese Gefahr nicht zur Kenntnis nehmen. Das ist verständlich, denn für das bloße Auge bleibt vorerst noch verborgen, was dem Blick durch die entsprechende theoretische Brille jetzt schon offenbar wird: Dass sich als Konsequenz des durch die Digitalisierung angestoßenen Wandels Stück für Stück ein »faschistisches Minimum« anhäuft. Außerdem hat es in bürgerlichen Kreisen durchaus Tradition, den Gedanken, dass eine Revolution von oben« unterwegs ist, die Menschenrechte und Demokratie beseitigen soll, instinktiv abzuwehren. Von den tonangebenden Protagonisten und Propagandisten der Digitalisierung wird diese Gefahr jedenfalls nicht ernsthaft erwogen. Doch historisch gesehen hat gerade eine solche Blindheit den zeitweiligen Siegeszug des Faschismus begünstigt.

Allzu selten sind kritische Stimmen wie die von Carolin Emcke, die neulich in der ›Süddeutschen Zeitung‹ unter dem Titel: ›Facebook macht Moral zum netten Accessoire‹ bemerkte: »Algorithmen beinflussen nicht nur das Kaufverhalten von Konsumentinnen und Konsumenten, sie entscheiden mitunter auch darüber, welche Studierende an welchen Hochschulen angenommenen werden, welche Menstruationszyklen als gesund oder ungesund gelten oder wem ein Kredit gewährt wird und wem nicht oder ob ein nächster Pflegegrad erreicht ist. Welche rassistischen Vorannahmen, welche Körperbilder, welcher Klassendünkel sich als unreflektierte Normen in die Programme eingeschrieben haben und systematische Diskriminierung betreiben, bleibt intransparent.«1

Die Frage lautet also, ob sich die Anhäufung eines »faschistischen Minimums« innerhalb der digitalen Revolution nachweisen lässt. Mit den beim Wort »Faschismus« sofort aufsteigenden Bildern von Führerkult, Massenkundgebungen, uniformierten Schergen und Konzentrationslagern hat das Gemeinte selbstverständlich nichts zu tun. Der althergebrachte Faschismus- Begriff, den die ehemalige US-Außenministerin Madelaine Albright in ihrem Buch ›Faschismus – Eine Warnung‹ ausgesprochen hat, hilft uns deshalb nicht weiter: »Für mich ist ein Faschist jemand, der mit allen Mitteln versucht, Macht zu erlangen, diese auf sich zu vereinen und zu behalten – notfalls mit Gewalt. Jemand, der weder an die regulative Kraft demokratischer Institutionen glaubt noch an die Pressefreiheit.«2 Ich möchte demgegenüber die These aufstellen, dass wir es heute mit einem nicht mehr personalisierbaren, rein technologisch erzeugten Faschismus zu tun haben, der sich gerade, als Folge systemischer Notwendigkeiten und Erfordernisse, wie nebenbei »einschleift«.

Hannah Arendt hat einmal bemerkt: »Über der Sinnlosigkeit der totalitären Gesellschaft thront der Suprasinn der Ideologien, die behaupten, den Schlüssel der Geschichte oder die Lösung aller Rätsel gefunden zu haben.«3 Eine solche Heilserwartung richtet sich heute auf die Digitalisierung. Doch mit der schleichenden Integration algorithmischer Entscheidungsprozesse in den Alltag und der Einrichtung einer entsprechenden Infrastruktur wird notwendig die allmähliche Unterwerfung des Menschen unter eine Herrschaft der Maschinen betrieben.

Für Arendt ist es außerdem ein Merkmal totalitärer Herrschaft, »wenn das radikal Böse im Zusammenhang eines Systems aufgetreten ist, welches in der Lage ist oder es versucht zu erreichen, dass alle Menschen gleichermaßen überflüssig werden. [...] Die ungeheure Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen, ist, dass dauernd Massen von Menschen ›überflüssig‹ werden. Es ist, als ob alle entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tendenzen der Zeit in einer heimlichen Verschwörung mit den Institutionen sind, die dazu dienen könnten, den Menschen wirklich als Überflüssige zu behandeln und zu handhaben.4 Genau dieses Zusammenspiel politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Tendenzen, die den Menschen zunehmend überflüssig machen, ist bei der Digitalisierung am Werk.

Dass mit der Künstlichen Intelligenz eine Meta-Maschine heranwächst, die sich menschlicher Kontrolle und Korrektur zu entziehen droht, erkennt auch ein Experte wie Wolfgang Wahlster vom ›Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz‹ (DFKI) in Saarbrücken:

»Ich finde es beunruhigend, dass wir nicht immer genau wissen, wie neuronale Netze ein bestimmtes Resultat erzielen.« Gerade deshalb müsse man »den Nutzen für den Menschen im- mer in den Mittelpunkt der KI-Forschung stellen«.5 Die Anwendung Künstlicher Intelligenz müsste also unbedingt unter demokratische Kontrolle gestellt werden, um diesen Nutzen zu gewährleisten. Insofern weist die von dem Philosophen Richard David Precht geforderte Ethikdebatte zum Problem der Künstlichen Intelligenz in die richtige Richtung.6 Doch sie wird nicht genügen, um den weltweiten Hype um die Digitalisierung zu brechen. Und unser politisches System steht strukturell auf Seiten der Macher und Umsetzer, die schon dabei sind, dem Durchschnittsbürger eine Herrschaftstechnologie überzustülpen, die dieser – meist ahnungslos und inzwischen fast alternativlos – selbst mit seinen Daten in Gang hält.

QR-Code als Identität

Welche Entwürdigung des Menschen mit der Digitalisierung einhergeht, lässt sich besonders deutlich in China beobachte, wo z.B. die Abschaffung des Bargeldes kräftig voranschreitet.

»Selbst Pekinger Bettler akzeptierten Almosen per QR-Code«7, vermeldete begeistert ein Artikel in der ›Welt‹ – als ob es begrüßenswert sei, dass Bettler dadurch wie Waren im Supermarkt abgescannt werden, eine informationelle Kaste der Unberührbaren, die nur noch eine gesellschaftliche Identität haben, wenn ihre Daten mit einem Smartphone auslesbar sind. (Und sie offenbar über ein Bankkonto verfügen.) Dennoch könnte man es für übertrieben halten, solche Erscheinungen als faschistoid zu bezeichnen. Doch unbestreitbar ist die Geschichte des Faschismus 1945 nicht zu Ende gegangen. Auf der ganzen Welt existieren bis heute Gruppen und Strömungen, die sich am faschistischen Leitbild orientieren. Diese ungebrochene Aktualität bestätigt eine Grundannahme der Faschismustheorie, wonach dieser ein Produkt der kapitalistischen Verhältnisse bzw. der von ihm verursachten sozialen Krisen ist, woraus die Suche nach anderen Gesellschaftsmodellen als dem der Demokratie erwächst, das mit dem Kapitalismus identifiziert wird. Die angestrebte integrierte Gemeinschaft hingegen ist streng hierarchisch strukturiert, mit einer kleinen Funktionselite an der Spitze, die ungehindert durchregiert. Diese muss aber nicht unbedingt aus Offizieren oder Parteikadern bestehen. Es könnten genauso gut Technokraten sein.

Zugleich verspricht das faschistische Kollektiv die Aufhebung der durch Klassenunterschiede und Konkurrenz verschärften Entfremdung der Menschen, die Überwindung der Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus. Das geschieht durch einen alle Bereiche der Gesellschaft durchdringenden Prozess der Vereinheitlichung, der im Nationalsozialismus als »Gleichschaltung« bezeichnet wurde – übrigens ein Begriff aus der Elektrotechnik. Dass eine solche Gleichschaltung mit den heutigen technischen Möglichkeiten noch viel umfassender und zugleich wesentlich subtiler möglich wäre, leuchtet unmittelbar ein.

Blicken wir noch einmal nach China: »Kamera-Überwachung auf der Grundlage von KI«, berichtete unlängst die ›Gesellschaft für bedrohte Völker‹ »wird auch in Xinjiang in den Umerzie- hungslagern eingesetzt, in denen rund 1,1 Millionen Uiguren, Kasachen und Kirgisen gegen ihren Willen festgehalten werden.«8 Die Unterdrückung kann aber auch weniger offenkundig ausfallen. Bekanntlich wird in China mithilfe Künstlicher Intelligenz und Data Mining ein »Sozialkreditsystem« aufgebaut, das der Verhaltenssteuerung dient. Alle verfügbaren Informationen über eine Person – sei es aus Kamera- oder Tonaufzeichnungen, Berichten von Nachbarschaftskomitees, dem Verhalten im Internet, aus Kaufentscheidungen und finanziellen Transaktionen usw. – werden gesammelt, je nach politischer Erwünschtheit mit Bonus- bzw. Maluspunkten bewertet und zu einem »Sozialrating« verdichtet. Dieses wird dann mit Erleichterungen bzw. Erschwernissen etwa bei Kreditaufnahme, Wohnungsverkauf, Jobsuche, Schul- oder Autozulassung usw. verknüpft.9 Wer da nicht zu den Verlierern gehören will, muss sich sozusagen selbst gleichschalten.

Wie also verhindern wir, dass wir dem Beispiel Chinas folgen und die Künstliche Intelligenz zu einer Herrschaftstechnologie wird? Zunächst einmal muss diese Gefahr, die Verwundbarkeit unserer Demokratie im allgemeinen Bewusstsein einen solchen Stellenwert einnehmen wie heute schon die Gefährdung unseres Planeten durch den Klimawandel. Dann müssen Gegenstrategien formuliert werden, die dem Datenhunger der Technologie-Konzerne, aber auch dem staatlicher Institutionen entgegenwirken. Ein Schritt könnte z.B. sein, den Datenschutz zum Grundrecht zu erheben. Wir sind schon kurz davor, dass ein Leben ohne Smartphone mit schweren Nachteilen ökonomischer und sonstiger Art verbunden ist. Wenn aber die Digitalisierung dazu führt, dass ein analoges Leben, zumal ein Leben außerhalb des Internets und der Mobilfunknetze, nur noch außerhalb unserer Gesellschaft möglich ist, dann hat diese die Schwelle zum Totalitarismus bereits überschritten. Dann bedarf es erst recht höchster Wachsamkeit, um die der Digitalisierung inhärente Tendenz zur Ablösung des menschlichen Geistes durch künstliche Intelligenz entgegenzuwirken und die Errichtung eines Algorithmen-Faschismus zu verhindern.


1 Vgl. Carolin Emcke: ›Facebook macht Moral zum netten Accessoire‹, in: ›Süddeutsche Zeitung‹ vom 16. Februar 2019.

2 Vgl. Madeleine Albright: ›Faschismus. Eine War- nung‹, Köln 2018, S. 21.

3 Hannah Arendt: ›Denken ohne Geländer‹, Mün- chen 2017, S. 126.

4 A.a.O., S, 129.

5 Vgl:. Wolfgang Wahlster: ›Ein autonom fahrendes Auto erkennt bei Nacht kein Wildschwein‹, in: ›Die Zeit‹ vom 26. Juli 2018.

6 Vgl. Richard David Precht: ›Maschinen ohne Moral‹, in ›Der Spiegel‹ 48/2018

7 www.welt.de/sonderthemen/noahberlin/article176965303/Bargeldloses-Bezahlen-gehoert-in-China-zum-Lebensalltag.html

8 www.gfbv.de/de/news/china-microsoft-soll-ver- bindungen-zu-chinesischem-ki-entwickler-abbre- chen-9595/

9 Vgl. Stefan Baron & Guangyan Yin-Baron: ›Die Chinesen. Psychogramm einer Weltmacht‹, Berlin 2018 S. 327ff.

Sonntag, 5. Mai 2019

Rudolf Steiner spricht 1922 in Wien

Der folgende Zeitungsartikel vom Juni 1922 war im Sammelband „Der andere Rudolf Steiner“ (2005) nur teilweise abgedruckt. Wolfgang G. Voegele, u.A. auch tdz-Autor und Herausgeber des Buches, sandte uns jetzt freundlicherweise den gesamten Artikel zu. Der Autor, vermutlich der Psychoanalytiker und Freud-Schüler Alfred Freiherr von Winterstein (1885-1958) schrieb hier einerseits zwar durchaus herablassend ironisch, aber zwischen den Zeilen - so will es uns scheinen (d. Red.) - doch einigermaßen beeindruckt über die rhetorischen Fähigkeiten Rudolf Steiners.

Der Rattenfänger - Anläßlich der Tagung des Anthroposophenkongresses

Von Alfred Winterstein

Ich bin der wohlbekannte Sänger,
Der vielgereiste Rattenfänger,
Den diese altberühmte Stadt
Gewiss besonders nötig hat.
J.W.Goethe

Wenn er auf das Rednerpult zuschreitet, geht eine erwartungsvolle Bewegung durch den bis zum letzten Platz gefüllten großen Musikvereinssaal. Und nun empfängt ihn minutenlanges Beifallsklatschen und Trampeln. Dr. Rudolf Steiner ist eine hohe, schlanke Erscheinung, der man die dreiundsechzig Jahre, die er zählt, nicht anmerkt; man würde ihn für fünfzig halten. Mit dem noch schwarzen, gescheitelten Haupthaar und bartlosem intellektuellen Antlitz, aus dem interessante Augen blicken, erinnert er eher an einen Schauspieler oder Marineoffizier als an einen vegetarischen Sektengründer, als den man sich ihn vielleicht vorstellt. Unwillkürlich fiel mir der dämonische Kapitän aus dem zweiten Akte von 'Hofmanns Erzählungen' ein. Und dies sind wohl auch die beiden Elemente seines Wesens: ein genialer Schauspieler, der sich der Wirkung jedes Wortes, jeder Bewegung voll bewußt ist (wenn er das Wort 'Schleier der Maja' vor der andächtigen Zuhörerschaft feierlich ausbreitet, wirft er gleichzeitig einen Blick auf seine Armbanduhr) und ein kühner, dämonischer Seefahrer, der auf metaphysischen Gewässern ins Grenzenlose steuert.

Steiner redet über anderthalb Stunden frei, mit hocherhobener Stimme, eine oratorische Leistung ersten Ranges, um die ihn mancher Parlamentsredner und Schauspieler beneiden könnte. Auf den Höhepunkten seiner Darlegungen, insbesondere am Schlusse, schwillt die Stimme zu kunstvoll berechnetem gewaltigen Pathos an. Man lasse sich nicht täuschen: der Wortschatz Steiners ist nicht übermäßig reich, geschickt gebrachte, einleuchtende Vergleiche sind noch lange keine Beweise, die häufige Wiederholung derselben, das kritische Auge blendende Antithesen, durch die man sich bisweilen an O[swald] Spenglers 'Untergang des Abendlandes' erinnert fühlt, wirkt auf den wissenschaftlich geschulten Geist ermüdend. (Auch die einzelnen Vorträge gleichen untereinander einem nur von verschiedenen Standpunkten aus aufgenommenen Tableau oder Panorama.) Aber um diesen Zuhörer handelt es sich Steiner nicht. Er verfolgt mit seinem Vorgehen eine pädagogische Tendenz. Er hämmert auf die Gehirne der Masse so lange ein, bis seine Ideen wie blitzende Nägel in den Köpfen festsitzen und jeder lustvoll die letzten Zusammenhänge zu schauen vermeint. Eritis sicut Deus ... Ich glaube, dass ein gut Teil der Massensuggestion Steiners auf seine Stimme zurückzuführen ist, eine metallisch tönende, leicht umflorte Stimme, die wie eine große dunkle Glocke schwingt. Und wenn er das Ohr der Frauen mit dem Worte 'Seele' tönend ausfüllt, läuft ein Schauer über manchen Rücken . . .

Fast ebenso interessant wie Steiner sind seine Zuhörer, richtiger: Zuhörerinnen, denn sie bilden die überwiegende Mehrheit des Publikums, so wie am Anfang des vorigen Jahrhunderts bei den Laienpredigten des Zacharias Werner, mit dem Steiner manche Ähnlichkeit hat. Man wird den Eindruck harmloser Narrheit nicht los. Sensationslüsterne Frauen, öfter aber unerlöste Seelen, Wesen, die im Leben nicht aufrecht zu gehen gelernt haben oder lahm geworden sind und nun hier Rettung suchen. Da ist eine ältere Dame, die Steiner wie einen Propheten verehrt, und dort steht ein junges Mädchen, das mit verzücktem Gesichte noch immer Beifall klatscht, wenn schon längst alle aufgehört haben, zu applaudieren. Man sieht merkwürdige Trachten. Jugendliche Brillenträger mit kurzen Hosen und nackten Knieen, Kleider, die an Laborantenkittel erinnern, alte Frauen mit kurzgeschorenem grauen Haar und Männer mit langen Haaren. Und nicht nur eine Geschlechts-, sondern auch eine Sprachverwirrung wie beim Turmbau zu Babel: Schwyzer Dütsch, holländische, italienische, englische, russische, schwedische, französische Laute dringen ans Ohr. Alle aber glauben, hier zu Pfingsten den zu verstehen, der mit feuriger Zunge zu ihnen redet.

An einem langen Tische neben dem Vortragspulte sitzen einige Jünger Steiners, sozusagen seine Generalstabsabteilung. Der Steiner zunächst Befindliche erinnert an den Lieblingsjünger Johannes, ein zweiter sieht wie ein bäuerlicher Christus aus, der Dichter unter den Anthoposophen, ein Schweizer, gemahnt im Profil an seinen Landsmann Rudolf von Habsburg. Andere wiederum machen einen gutbürgerlichen Eindruck, scheinen ernste Männer der Wissenschaft zu sein. Und wenn man sie in formvollendeter Rede (worin sie dem Meister nicht nachstehen) reden hört, etwa den protestantischen Pastor über „Pfingstgeist und religiöse Erneuerung“ oder den Musikhistoriker über Anton Bruckner, vermißt man zunächst den tieferen Zusammenhang mit der Anthroposophie und folgt willig und angeregt ihren geistvollen, bilderreichen Ausführungen, gewinnt den Eindruck, daß es sich eher um eine Art Personalunion zwischen Wissenschaft und Anthroposophie bei den Betreffenden handelt.

Daß die offizielle Wissenschaft von Steiner anscheinend keine Notiz nimmt, ist weiter nicht auffällig, wenn auch hier zum mindesten ein psychologisches Phänomen von besonderem Interesse aus nächster Nähe zu studieren wäre. Les savants ne sont pas curieux, meint der Spötter Anatole France.

Steiner kommt zweifellos einem tiefgefühlten Bedürfnis von Millionen Seelen entgegen und ist als notwendiger bedeutsamer Ausdruck einer an der Grenze zweier Zeitalter stehenden Epoche zu werten. Der letzten Endes aus Indien stammende positive Impuls, der in der anthroposophischen Bewegung – und nicht nur in dieser – lebt, könnte als Erkenntnisferment reiner wirken, wenn nicht auch hier die Gefahr bestünde, daß die zu wissenschaftlichen Zwecken gegründete Gesellschaft sich immer mehr in eine orthodoxe, dogmenstarre, intolerante Glaubensgemeinschaft verwandelt. Steiner selbst ist unstreitig außerordentlich begabt, ein Könner von erstaunlicher Vielseitigkeit; man mag ihm persönlich gerne zugestehen, daß er über besondere Erkenntnisquellen verfügt. Was auch den kritischer Veranlagten, zumal, wenn er in einer spirituell-künstlerischen Atmosphäre zu denken gewohnt ist, an Steiner anzieht, ist seine Forderung, vom energisierten Ich aus zu den mit dem Seelenauge geschauten Ideen der Dinge und Geschehnisse durchzustoßen und seine hohe Wertschätzung der Erkenntnismethode Goethes, die er auf die mannigfaltigsten Gebiete anzuwenden bemüht ist. Es steckt freilich auch ein gewaltiges Stück Demagogentum in Steiner, wenn er behauptet, daß jeder Mensch die Seelenorgane zur Erkenntnis der geistig-göttlichen Welt in sich auszubilden vermag. Der ungeschulte Kopf wird nur allzu leicht von dem süßen Gifte phantastischer kosmischer Visionen berauscht und verliert den Boden unter den Füßen, den er nach Steiners Vorschrift – dies sei als wichtiger Zug festgestellt – nicht verlassen soll. Wer beispielsweise von indischer Esoterik, von Paracelsus oder von Hermes Trismegistos nichts weiß, wird auch die Originalität der Lehre und sohin die Persönlichkeit des Lehrers zu überschätzen geneigt sein. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff des Materialismus, denn über die metaphysischen Gewässer wandelt einer mit „Zaubersaiten und Gesang“, halb Heiland, halb Rattenfänger. Um nicht unterzugehen, genügt es aber nicht, an ihn zu glauben. Man muß auch schwimmen können.

[Neue Freie Presse Wien, 20. Juni 1922, Morgenblatt, Feuilleton, S. 1 f.]











wundern geschieht immer wieder ...

Vergangen vergessen vorüber vergangen vergessen vorbei die zeit deckt den mantel darüber vergangen vergessen vorbei freddy quinn Als Deut...