Sonntag, 5. Mai 2019

Rudolf Steiner spricht 1922 in Wien

Der folgende Zeitungsartikel vom Juni 1922 war im Sammelband „Der andere Rudolf Steiner“ (2005) nur teilweise abgedruckt. Wolfgang G. Voegele, u.A. auch tdz-Autor und Herausgeber des Buches, sandte uns jetzt freundlicherweise den gesamten Artikel zu. Der Autor, vermutlich der Psychoanalytiker und Freud-Schüler Alfred Freiherr von Winterstein (1885-1958) schrieb hier einerseits zwar durchaus herablassend ironisch, aber zwischen den Zeilen - so will es uns scheinen (d. Red.) - doch einigermaßen beeindruckt über die rhetorischen Fähigkeiten Rudolf Steiners.

Der Rattenfänger - Anläßlich der Tagung des Anthroposophenkongresses

Von Alfred Winterstein

Ich bin der wohlbekannte Sänger,
Der vielgereiste Rattenfänger,
Den diese altberühmte Stadt
Gewiss besonders nötig hat.
J.W.Goethe

Wenn er auf das Rednerpult zuschreitet, geht eine erwartungsvolle Bewegung durch den bis zum letzten Platz gefüllten großen Musikvereinssaal. Und nun empfängt ihn minutenlanges Beifallsklatschen und Trampeln. Dr. Rudolf Steiner ist eine hohe, schlanke Erscheinung, der man die dreiundsechzig Jahre, die er zählt, nicht anmerkt; man würde ihn für fünfzig halten. Mit dem noch schwarzen, gescheitelten Haupthaar und bartlosem intellektuellen Antlitz, aus dem interessante Augen blicken, erinnert er eher an einen Schauspieler oder Marineoffizier als an einen vegetarischen Sektengründer, als den man sich ihn vielleicht vorstellt. Unwillkürlich fiel mir der dämonische Kapitän aus dem zweiten Akte von 'Hofmanns Erzählungen' ein. Und dies sind wohl auch die beiden Elemente seines Wesens: ein genialer Schauspieler, der sich der Wirkung jedes Wortes, jeder Bewegung voll bewußt ist (wenn er das Wort 'Schleier der Maja' vor der andächtigen Zuhörerschaft feierlich ausbreitet, wirft er gleichzeitig einen Blick auf seine Armbanduhr) und ein kühner, dämonischer Seefahrer, der auf metaphysischen Gewässern ins Grenzenlose steuert.

Steiner redet über anderthalb Stunden frei, mit hocherhobener Stimme, eine oratorische Leistung ersten Ranges, um die ihn mancher Parlamentsredner und Schauspieler beneiden könnte. Auf den Höhepunkten seiner Darlegungen, insbesondere am Schlusse, schwillt die Stimme zu kunstvoll berechnetem gewaltigen Pathos an. Man lasse sich nicht täuschen: der Wortschatz Steiners ist nicht übermäßig reich, geschickt gebrachte, einleuchtende Vergleiche sind noch lange keine Beweise, die häufige Wiederholung derselben, das kritische Auge blendende Antithesen, durch die man sich bisweilen an O[swald] Spenglers 'Untergang des Abendlandes' erinnert fühlt, wirkt auf den wissenschaftlich geschulten Geist ermüdend. (Auch die einzelnen Vorträge gleichen untereinander einem nur von verschiedenen Standpunkten aus aufgenommenen Tableau oder Panorama.) Aber um diesen Zuhörer handelt es sich Steiner nicht. Er verfolgt mit seinem Vorgehen eine pädagogische Tendenz. Er hämmert auf die Gehirne der Masse so lange ein, bis seine Ideen wie blitzende Nägel in den Köpfen festsitzen und jeder lustvoll die letzten Zusammenhänge zu schauen vermeint. Eritis sicut Deus ... Ich glaube, dass ein gut Teil der Massensuggestion Steiners auf seine Stimme zurückzuführen ist, eine metallisch tönende, leicht umflorte Stimme, die wie eine große dunkle Glocke schwingt. Und wenn er das Ohr der Frauen mit dem Worte 'Seele' tönend ausfüllt, läuft ein Schauer über manchen Rücken . . .

Fast ebenso interessant wie Steiner sind seine Zuhörer, richtiger: Zuhörerinnen, denn sie bilden die überwiegende Mehrheit des Publikums, so wie am Anfang des vorigen Jahrhunderts bei den Laienpredigten des Zacharias Werner, mit dem Steiner manche Ähnlichkeit hat. Man wird den Eindruck harmloser Narrheit nicht los. Sensationslüsterne Frauen, öfter aber unerlöste Seelen, Wesen, die im Leben nicht aufrecht zu gehen gelernt haben oder lahm geworden sind und nun hier Rettung suchen. Da ist eine ältere Dame, die Steiner wie einen Propheten verehrt, und dort steht ein junges Mädchen, das mit verzücktem Gesichte noch immer Beifall klatscht, wenn schon längst alle aufgehört haben, zu applaudieren. Man sieht merkwürdige Trachten. Jugendliche Brillenträger mit kurzen Hosen und nackten Knieen, Kleider, die an Laborantenkittel erinnern, alte Frauen mit kurzgeschorenem grauen Haar und Männer mit langen Haaren. Und nicht nur eine Geschlechts-, sondern auch eine Sprachverwirrung wie beim Turmbau zu Babel: Schwyzer Dütsch, holländische, italienische, englische, russische, schwedische, französische Laute dringen ans Ohr. Alle aber glauben, hier zu Pfingsten den zu verstehen, der mit feuriger Zunge zu ihnen redet.

An einem langen Tische neben dem Vortragspulte sitzen einige Jünger Steiners, sozusagen seine Generalstabsabteilung. Der Steiner zunächst Befindliche erinnert an den Lieblingsjünger Johannes, ein zweiter sieht wie ein bäuerlicher Christus aus, der Dichter unter den Anthoposophen, ein Schweizer, gemahnt im Profil an seinen Landsmann Rudolf von Habsburg. Andere wiederum machen einen gutbürgerlichen Eindruck, scheinen ernste Männer der Wissenschaft zu sein. Und wenn man sie in formvollendeter Rede (worin sie dem Meister nicht nachstehen) reden hört, etwa den protestantischen Pastor über „Pfingstgeist und religiöse Erneuerung“ oder den Musikhistoriker über Anton Bruckner, vermißt man zunächst den tieferen Zusammenhang mit der Anthroposophie und folgt willig und angeregt ihren geistvollen, bilderreichen Ausführungen, gewinnt den Eindruck, daß es sich eher um eine Art Personalunion zwischen Wissenschaft und Anthroposophie bei den Betreffenden handelt.

Daß die offizielle Wissenschaft von Steiner anscheinend keine Notiz nimmt, ist weiter nicht auffällig, wenn auch hier zum mindesten ein psychologisches Phänomen von besonderem Interesse aus nächster Nähe zu studieren wäre. Les savants ne sont pas curieux, meint der Spötter Anatole France.

Steiner kommt zweifellos einem tiefgefühlten Bedürfnis von Millionen Seelen entgegen und ist als notwendiger bedeutsamer Ausdruck einer an der Grenze zweier Zeitalter stehenden Epoche zu werten. Der letzten Endes aus Indien stammende positive Impuls, der in der anthroposophischen Bewegung – und nicht nur in dieser – lebt, könnte als Erkenntnisferment reiner wirken, wenn nicht auch hier die Gefahr bestünde, daß die zu wissenschaftlichen Zwecken gegründete Gesellschaft sich immer mehr in eine orthodoxe, dogmenstarre, intolerante Glaubensgemeinschaft verwandelt. Steiner selbst ist unstreitig außerordentlich begabt, ein Könner von erstaunlicher Vielseitigkeit; man mag ihm persönlich gerne zugestehen, daß er über besondere Erkenntnisquellen verfügt. Was auch den kritischer Veranlagten, zumal, wenn er in einer spirituell-künstlerischen Atmosphäre zu denken gewohnt ist, an Steiner anzieht, ist seine Forderung, vom energisierten Ich aus zu den mit dem Seelenauge geschauten Ideen der Dinge und Geschehnisse durchzustoßen und seine hohe Wertschätzung der Erkenntnismethode Goethes, die er auf die mannigfaltigsten Gebiete anzuwenden bemüht ist. Es steckt freilich auch ein gewaltiges Stück Demagogentum in Steiner, wenn er behauptet, daß jeder Mensch die Seelenorgane zur Erkenntnis der geistig-göttlichen Welt in sich auszubilden vermag. Der ungeschulte Kopf wird nur allzu leicht von dem süßen Gifte phantastischer kosmischer Visionen berauscht und verliert den Boden unter den Füßen, den er nach Steiners Vorschrift – dies sei als wichtiger Zug festgestellt – nicht verlassen soll. Wer beispielsweise von indischer Esoterik, von Paracelsus oder von Hermes Trismegistos nichts weiß, wird auch die Originalität der Lehre und sohin die Persönlichkeit des Lehrers zu überschätzen geneigt sein. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff des Materialismus, denn über die metaphysischen Gewässer wandelt einer mit „Zaubersaiten und Gesang“, halb Heiland, halb Rattenfänger. Um nicht unterzugehen, genügt es aber nicht, an ihn zu glauben. Man muß auch schwimmen können.

[Neue Freie Presse Wien, 20. Juni 1922, Morgenblatt, Feuilleton, S. 1 f.]











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