Sonntag, 13. Oktober 2019

wundern geschieht immer wieder ...

Vergangen vergessen vorüber
vergangen vergessen vorbei
die zeit deckt den mantel darüber
vergangen vergessen vorbei
freddy quinn
Als Deutschland zum ersten Mal Fußballweltmeister wurde, war ich sieben Jahre alt. Zu jener Zeit hatten wir noch keinen Fernsehapparat, sondern nur ein Radio. Immerhin. Auch wenn man erst sieben ist, bekommt man ein solches Großereignis hautnah mit und wird sich sicher noch lange daran erinnern. Ich erinnere mich aber noch an mehr aus jener Zeit: Zum Beispiel an Trümmerhaufen und Schuttberge in Berlin Ost und West und auch noch in Hamburg. Oder an die Suchmeldungen des Roten Kreuzes, nach vermissten Vätern oder Söhnen, an Häuserwänden oder in so einer Art Schaukästen.
Ich erinnere mich an Gespräche zwischen Erwachsenen über einen Mann namens Hitler, der viele Juden umgebracht und dass man einen Krieg geführt hätte, der Millionen von Opfern gefordert hätte.
Und ein wenig später hieß es dann, dass "der Russe" schon wieder vor der Tür stände und es sicher nicht mehr lange dauern würde, bis er sich - schon wieder - gegen Deutschland wenden würde. Und so dauerte es dann nicht lange, da rasselten die Säbel und ratterten die Panzerketten schon wieder durch die schöne Lüneburger Heide und anderswo. Und die alten Seilschaften, die Generäle und die in der "Stunde Null" urplötzlich zu Demokraten gewandelten Nazis waren aus den inzwischen weggeräumten Trümmern, dem Staub und ihrer Trauer über den verlorenen Krieg hervor gekrochen und gründeten die Bundeswehr. Und wer mit all den Mitläufern nicht mitlaufen wollte, wurde verlacht, verhöhnt und mundtot gemacht.
Auch daran kann ich mich noch erinnern und deshalb wundere ich mich, warum sich so viele Menschen meiner Generation heute so schwer damit tun, sich das alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen und sich wirklich einmal ernsthaft zu fragen, was sie außer dem "Wirtschaftswunder", dem "Aufschwung" und dem Land, in dem wir nach Aussagen unserer Kanzlerin alle "gut und gerne" leben, eigentlich von all dem begriffen haben. Ihnen zum Trost sei gesagt, dass auch ich ein Weile gebraucht habe, bis ich das alles verstanden habe.
Und doch frage ich mich in letzter Zeit des öfteren, warum wir immer wieder diese Art von Leuten wählen, die uns im letzten Jahrhundert in die Schlamassel gelockt haben, in denen wir auf die ein oder andere Weise immer noch stecken und aus denen wir, wie es scheint, nie wieder herauskommen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es sind keine Nazis und auch keine Judenmörder, keine Schlächter und keine Eichmänner, keine Hitlers und keine Goebbels mehr, die uns heute anführen.
Die heutigen Führer sind daran interessiert, ihre eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen, was natürlich bedeutet, einen Teil der Schafherde im Regen stehen zu lassen. Für Prozentzahlen sind andere zuständig, aber ich glaube, es sind ganz viele. Da steht sie dann, die Herde und ist ganz verzweifelt und tröstet sich mit allerlei Schnickschnack, manchmal natürlich auch mit richtig guten Ideen wie z. B. den Müll zu trennen, für das Grundeinkommen zu sein, für eine nachhaltige Landwirtschaft zu demonstrieren, Bio zu kaufen, ein bisschen stolz auf Greta zu sein und auf das E-Auto zu sparen.
Aber auch mit weniger guten Ideen: Zum Beispiel die AFD zu wählen. Man wird doch wohl noch wählen dürfen. Ja schon, aber man sollte sich schon gut überlegen - um einmal Helmut Kohl zu bemühen, "was hinten raus kommt."
Und dann erzählt uns ein offensichtlich irre gewordener Fernsehmoderator, dass die Bundeswehr schon nach Estland unterwegs sei, um Putin zu stoppen. Man wird doch wohl ein Scherz machen dürfen... Also bitte. Die meisten werden es schon vergessen haben, aber der alte Radiomachersatz gilt wohl noch immer: "Das versendet sich." Aber darf man eigentlich mal fragen, wer einem Nachrichtenerzähler so etwas erlaubt? Die können doch nicht ganz dicht sein, da beim Fernsehen. Wer sind in dieser Welt eigentlich die echten Komiker? Wenn Nachrichtensprecher einer deutschen Fernsehanstalt die "Anstalt" toppen, beginne ich zu glauben, dass wir einen wie Trump verdient haben. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich lasse gern Amerika den Amerikanern. Auch wenn man sich erzählt, dass der erste Amerikaner, der Columbus erblickt hatte, vor Schreck einen Herzanfall bekommen haben soll.
Wir "verteidigen unsere Freiheit" in Afghanistan und anderswo in der Welt mit kaputten Hubschraubern, bauen Brunnen und lassen die Kinder reinfallen. Wir sind ganz vorne mit dabei, wenn Drohnenmorde ausgeführt werden, Zyniker nennen es dann "Liebesgrüße aus Ramstein" und werden nicht einmal rot vor Scham dabei.
Andauernd reden wir vom Frieden und meinen den Krieg. Wenn wir wirklich Frieden wollen, warum wählen wir immer noch diese geldgeile Brut, die der Rüstungslobby in den Hintern kriecht und die uns via Tagesschau und anderen die Propaganda um die Ohren haut und uns einen russischen Bären aufbinden will?
Frieden schaffen mit immer weniger Waffen hieß es in den 1980ern. Das ist heutzutage so etwas von Old School, dass sich wahrscheinlich sogar Helmut Kohl vor Lachen im Grabe rumdreht. Wann aber realisieren wir endlich, dass diese Art Politik, die auf Konfrontation und Gewinnmaximierung um jeden Preis setzt statt auf Gemeinwohl und Miteinander, abgewirtschaftet hat? Gibt es Alternativen? Neue Ideen? "Ändert Euren Sinn", heißt es bei Johannes dem Täufer , "Die Waffen nieder!" bei Berta von Suttner. und "Fridays for Future" bei Greta Thunberg.
"Wundern geschieht immer wieder .. " oder so ähnlich sang einst Katja Epstein. Ach, ist ja auch schon eine Weile her. Aber ich bin ja noch nicht einmal ein Kriegskind. Wir hatten doch Frieden, als Deutschland zum ersten Mal Weltmeister wurde.
max michels

Modell Syrien - hoffen auf Putin?

von Kai Ehlers

„Türkische Offensive in Syrien – Hoffen auf Putin“, mit dieser Schlagzeile überraschte die „Neue Osnabrücker Zeitung“ ihre Leserschaft am Tag des Einmarsches türkischer Truppen in die „Sicherheitszone“ zwischen der Türkei und Syrien, genauer zwischen der Türkei und den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltungszone, Rojava, im Norden Syriens.i
Wie ist ein solcher Kommentar zu bewerten? Denken wir ein paar Tage zurück: Nur wenig mehr als eine Woche ist es gerade her, da bezeichnete Wladimir Putin auf dem alljährlichen in Russland stattfindenden Waldai-Kongress, der unter dem Thema „Die Situation im nahen und fernen Osten“ stand, Syrien als Modell möglicher politischer Lösungen von regionalen Konflikten, die aus den Veränderungen der gegenwärtigen Weltordnung resultieren.ii
Die Welt sei multipolar geworden, erläuterte Putin, „komplizierter“. Die Menschheit trete in eine „Ära ohne jegliche Weltordnung“ ein. Aber statt neuer Blöcke, entstehe nun ein vielgestaltiges Netz souveräner Nationalstaaten. Das sei eine natürliche Entwicklung. Allerdings sei sie „mit vielen Bedrohungen behaftet“, mit rechtsfreien Räumen, etwa in Fragen der atomaren Waffen. Doch gebe es ein „Gefühl einer gemeinsamen Verantwortung“ auf der „Grundlage der Schlüsselrolle des Völkerrechtes“ und der Achtung der Souveränität der Staaten. Das Recht werde natürlich transformiert, müsse transformiert werden. „Aber wir alle werden daran arbeiten es zu schützen. Ein anderer Weg ist offensichtlich mit globalen Katastrophen für praktisch die gesamte Menschheit behaftet.“
„Deshalb“, so Putin weiter, „können wir nicht auf eine umfassende Weltordnung verzichten. Wir brauchen aber auch Flexibilität und Nichtlinearität, was nicht die Ablehnung der Verbindlichkeit bedeuten würde, sondern die Fähigkeit, einen komplexen, realitätsgebundenen Prozess zu gestalten, der die Fähigkeit voraussetzt, verschiedene Kultur- und Wertesysteme berücksichtigen zu müssen, zu kooperieren und Stereotypen und geopolitische Klischees zu beseitigen. Nur so können die Herausforderungen auf globaler, regionaler und nationaler Ebene effektiv gelöst werden.“
Als d a s Beispiel für eine solche mögliche Lösung der Probleme verwies Putin sodann auf das russische Eingreifen in Syrien. Zu Beginn des Eingreifens durch Russland 2015 habe noch niemand wirklich geglaubt, dass dieses Eingreifen ein positives Ergebnis bringen könne. Tatsächlich aber sei die „terroristische Internationale“ in Syrien jetzt besiegt, sei die Gewalt im Lande „drastisch zurückgegangen“. „In Zusammenarbeit mit unseren Partnern des Astana-Formats“, so Putin, also Russlands, des Iran, der Türkei „ist es uns gelungen, einen inner-syrischen politischen Prozess in Gang zu setzen und enge Arbeitskontakte mit dem Iran, der Türkei, Israel, Saudi-Arabien, Jordanien und anderen Ländern des Nahen Ostens herzustellen. Ebenso mit den Vereinigten Staaten.“
„Sie werden zustimmen“, so Putin zuversichtlich, „dass es noch vor einigen Jahren schwierig war, sich eine solch komplizierte diplomatischen Ausrichtung mit Beteiligung sehr unterschiedlicher Staaten mit sehr unterschiedlichen Emotionen zueinander vorzustellen. Aber jetzt ist das eine vollendete Tatsache und wir haben es geschafft.“ Jetzt sei die Zeit der großen Militäreinsätze vorbei. Jetzt gehe es um politische Lösungen. Dafür habe Russland sich für die Bildung eines Verfassungskonventes eingesetzt, der jetzt seine Arbeit aufgenommen habe.
„Wir glauben“, betonte Putin schließlich, „dass die syrische Regelung ein Modell für die Lösung regionaler Krisen sein kann, bei denen in den allermeisten Fällen diplomatische Mechanismen zum Einsatz kommen werden.“

Und jetzt? Nach der türkischen Offensive?


Man möchte Putin tatsächlich zustimmen. Hat er sich doch als globaler Krisenmanager in den letzten Jahren tatsächlich so profiliert, dass heute keine internationale Entscheidung an ihm, an Russland vorbeikommt, auch wenn von seinen westlichen ‚Partnern‘ gegen ihn zugleich als angeblicher „Diktator“, „Aggressor“ agitiert wird.
Die Frage aber ist dennoch: Kann Putin, kann Russland das „Modell Syrien“ halten, nachdem die USA das Bündnis mit den Kurden verlassen und der Türkei damit den Weg für ihre Invasion in die Selbstverwaltungsgebiete der Kurden im Norden Syriens freigemacht haben? Und wenn, dann zu welchem Preis?
Der plumpe Rückzug der US-Schutzmacht aus ihrem Bündnis mit den kurdischen Kämpfern und Kämpferinnen, die mit mindestens 10.000 Toten zum Sieg über die Terror-Milizen des „Islamischen Staates“ beigetragen haben, hat das mühsam gesponnene Netz labiler diplomatischer und semi-militärischer Kooperation in Mesopotamien auf einen Schlag zerrissen und ein Vacuum hinterlassen, das jetzt die unterschiedlichen Kräfte zu eigenen Aktivitäten veranlassen könnte – nicht nur die Türkei, die sich jetzt ermutigt sieht, ihren immer wieder angekündigten, aber durch die amerikanische Präsens verhinderten Vernichtungsfeldzug gegen die von ihnen als „Terroristen“ eingestuften Kurden nun endlich durchzuziehen.
Mit den Türken ziehen ihre arabischen Hilfstruppen, radikale Djihadisten gegen die kurdische Selbstverwaltung. Für den Iran öffnen sich Möglichkeiten, ihre Strategie des ‚Schiitischen Halbmondes‘ über den Norden Syriens in den Libanon zu verstärken, wenn die amerikanische Präsenz im Norden des syrischen Raumes wegfällt. Israel andererseits sieht sich durch eben diese Möglichkeit unter stärkerer Bedrohung seines Erzfeindes Iran. Die bedrängten Kurden sind bereit, ihre Autonomie unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen, aber sie werden nicht mehr in der Lage sein, die über 10.000 islamistischen Kämpfer plus ihrer Frauen und Kinder weiter unter Verschluss zu behalten, die seit der Niederlage des „Islamischen Staates“ von ihnen in Lagern bewacht werden. Syriens Baschar al Assad sieht die Chance, dem geschwächten „Separatismus“ der syrischen Kurden ein Ende zu bereiten.
Die Antwort auf die Frage, ob das „Modell Syrien“ von Russland gehalten werden kann, kann nicht gefallen: Sie lautet ganz offensichtlich – ja, aber. Ja, aber bedeutet: Russland kann im Interesse einer weiteren Stabilisierung der syrischen Souveränität, der Stabilität der in Astana im Lauf der letzten beiden Jahre ausgehandelten gegenseitigen Duldung von russischen, iranischen und türkischen Einflussnahmen auf Syrien weiterhin vermitteln, aber mit der unvermeidlichen Konsequenz, dass sich die bedrohten Kurden der Selbstverwaltungszone dem Schutz Syriens und damit Russlands unterstellen. Nur das wird Erdogans Invasionspläne stoppen. Es wird aber gleichbedeutend mit einem Ende der Selbstverwaltungs-Autonomie von ‚Rojava‘ sein, weil Assad diese ablehnt.
Putin, Russland als Schutzmacht Syriens, kann und wird nach Lage der Dinge für diese neue Konstellation eintreten und sie machtpolitisch garantieren, indem es der Einverleibung der selbstverwalteten Gebiete in den syrischen Staat zustimmt. Angesichts der Grundpositionen Putins, für den „Terrorismus“ und „Separatismus“ gleichermaßen unter das Verdikt der „Regellosigkeit“ fallen, welche die regionale und tendenziell globale Stabilität bedrohen, spricht so leider alles dafür, dass die „Hoffnung auf Putin“, der man nur allzu gern zustimmen möchte, auf ein Bauernopfer im Namen der Erhaltung der Stabilität zusammenschnurrt.
Die Kurden und alle diejenigen nicht kurdischen Kräfte, die mit der kurdischen Bevölkerung zusammen mitten im Bürgerkriegschaos, im Zentrum terroristischer Brutalität, und einem um sie herum tobenden Stellvertreterkrieg der globalen Mächte, den Ansatz zu einer selbstverwalteten, emanzipatorischen, zudem noch wesentlich von Frauen getragenen Gesellschaft gewagt haben, werden sich unter den Schutz dieser von Russland garantierten Stabilität, das heißt, des heute herrschenden Credos vom einheitlichen Nationalstaat begeben müssen – um nicht erneut Opfer des Terrorismus zu werden, sei es von unten oder von oben. Darin liegt eine Chance für sie, denn Stabilität ist besser als Krieg. Das eigentliche Modell aber, auf dem ihre Hoffnung und die all derer liegt, die den Zukunftskeim dieses Experimentes erkannt haben, ist nicht diese Stabilität, sondern deren Überwindung.

Webseite des Autors: www.kai-ehlers.de

2  Alle folgenden Zitate aus Putins Rede unter: http://en.kremlin.ru/events/president/news/61719

Montag, 16. September 2019

Theater Paderborn. Wer hat Angst vor Virginia Woolf?

von Erhard Hofman

Distakul, Tölke, Schäfer, Mayer © Foto Viehoff

Spätestens seit der grandiosen Verfilmung von ´Wer hat Angst vor Virginia Woolf` mit Liz Taylor und Richard Burton in den Hauptrollen, sozusagen der Vorläufer aller reality soaps, hat Edward Albees Stück aus dem Jahr 1962 die Bühnen der Welt erobert. Nun also auch das Paderborner Große Haus.
Es könnte alles so schön sein: schicke Villa mit Außenpool (Bühne: Eylien König, Kostüme: Irmgard Kersting), gesichertes Einkommen als Unidozent, gut vernetzt im intellektuellen Establishment der Stadt, aber mit Idylle ist nix in dieser scheinbar so schönen Welt. Das Stück geht ohne Vorwarnung in die Vollen: Volltrunken kommen George (Herbert Schäfer) und Martha (Josephine Mayer) (kleine Namensreferenz an den US-Vorzeigepräsidenten George Washington) von einer Party, zu der Marthas Vater als Unipräsident geladen hat, nach Hause. Mit diesem fulminanten Intro legt die Regisseurin Ulrike Maak das Fundament für den Rest des Abends: unverblümt, aggressiv, sexuell aufgeladen, hemmungslos werden die Wunden eines frustrierten Ehelebens offengelegt. Fataler Helfer in der Not ist der Alkohol: je mehr, desto enthemmter. „Gut, besser, am besten, bestialisch“ steigert George grammatisch und semantisch nicht ganz korrekt seine Maxime. Leider hat Martha auch noch die neuen Nachbarn, den jungen, aufstrebenden Biologiedozenten Nick (Tim Tölke) und seine namenlose, weil immer nur ´Süße` genannte Frau (Pornpailin Distakul), zur Party danach eingeladen.
Im ersten Teil des Dreiakters, den Maak angelehnt an das römische panem et circenses ´Spaß und Spiele` nennt, werden die beiden ahnungslosen Gäste in dieses abgründige Spiel der gegenseitigen Selbstentblößung hineingezogen. Der völlig frustrierte und zynische George liefert sich mit der lasziven und nicht minder vom Leben gezeichneten Martha ein unglaubliches Gefecht an wechselseitigen Erniedrigungen, gegen die sich der eher stromlinienförmig daherkommende Nick und seine zwischen naiv und explosiv changierende Süße kaum wehren können. Im 2. Akt, Walpurgisnacht betitelt, werden dann auch deren Abgründe deutlich. Und es wird im Verlauf des Abends immer deutlicher: es gibt ein Spiel hinter dem Spiel, eine geheime Verabredung zwischen Martha und George, die ihre Lebenslüge für sie überhaupt noch halbwegs erträglich macht: sie erzählen sich und klammern sich an die Geschichte eines nur in ihrer Fantasie existierenden Sohns. Leider bricht Martha die einzige fixe Regel ihres makabren Spiels: Niemals über den Sohn mit anderen sprechen. Dies führt dann im dritten Akt, der Teufelsaustreibung, zur finalen Eskalation und letztendlich zum stillen, fragilen Ende des Krieges. „Jetzt wird es besser, vielleicht“ ist die Hoffnung.
Das insgesamt in die Jahre gekommene Stück lebt eindeutig von der Qualität des Schauspiels. Die vier Akteure bestechen durch intensives, authentisches und variables Theater. Das zu Beginn angeschlagene Tempo wird durch die ganze Inszenierung in einem wahren Hexenritt durchgetragen. Es ist Sprechtheater im besten Sinne, von Ulrike Maak klug und mit großer Stringenz inszeniert. Ein toller Theaterabend: und das Publikums dankt es mit langem Applaus. 

Montag, 2. September 2019

THE BLACK RIDER. Ein wunderbarer Theaterabend ...

... und ein genialer Einstieg in die neue Spielzeit am Theater Paderborn. 

von Michael Mentzel

Minetti, Faseler, Derendeli, Sutter, Potthoff, Wilß, Hugendick- Foto Ch. Meinschäfer


Was tut ein "Sesselfurzer", wenn er die Tochter des Försters heiraten möchte, der Vater der Angebeteten (Alexander Wilß) aber darauf besteht, dass der künftige Ehemann schießen können muss? Richtig, er muss es lernen. So gebietet es die Konvention, der Brauch, die Tradition. "Kommt was in den Magen rein, folgt das Herz von ganz allein!" Also: "Lerne Jagen!". 

Die Schießübungen jedoch fallen bescheiden aus, denn die Tiere, die der Amtsschreiber Wilhelm (Carsten Faseler) erlegen möchte, sehen ihn nur mitleidig an, zucken mit den Schultern und traben davon. Da kommt dem armen Wilhelm, der mit dem Federkiel besser umgehen kann als mit einer Flinte, der Stelzfuß (Daniel Minetti) gerade recht. Dieser nämlich verschafft ihm die Kugeln, die ihr Ziel von ganz allein treffen. Verträge dieser Art haben allerdings oft auch etwas Kleingedrucktes und so hat der Höllenritt, den Wilhelm mit Hilfe dieses Agreements nun antritt, einen kleinen Haken. Das Ziel der siebten - der letzten - Kugel wird nämlich von Stelzfuß bestimmt. 

Bis es aber zum Showdown kommt, durchlebt das Publikum ein Feuerwerk von Ideen, die sich Tom Waits, William S. Burroughs und Robert Wilson in Anlehnung an die Legende Carl Maria von Webers Freischütz haben einfallen lassen, ein Spektakel von, Musik, Schauspiel und Bewegung, immer frisch, witzig und voller Überraschungen. 
Die Szenerie (Bühnenbild von Matthias Strahm) erinnert an den Schützenfest-Zeltplatz vor dem Dorf: Festzelt, Bierbänke und ein Getränkekühlschrank, der sich im Verlauf des Stückes noch für etwas anderes eignen wird. Alles - und noch mehr - ziemlich abgeranzt und in eher düsteres Licht getaucht, die Kostüme in fast ebensolchem Zustand, und die Protagonisten in einem Outfit, bei denen man nicht an die Kleiderläden auf der Paderborner Westernstraße denken mag, sondern sich eher in Third-Hand-Läden in Downtown-Irgendwo versetzt fühlt. 
Ein geniales Ambiente also für die Musik von Tom Waits, gespielt von der Sebastian Müller Band, die dem Stück jene Atmosphäre verleiht, die an Texte von Bukowski oder Ginsberg erinnert. Alle musikalischen Stilrichtungen werden auf eine geniale Weise mit einer Sound- und Geräuschkulisse miteinander verwoben, Musik, die absolut authentisch daherkommt. Ein Hörgenuss vom feinsten! Dazu der Gesang der Protagonisten, die Einsätze, das Timing...

Claudia Sutter, herrlich skurril als Käthchen, Kirsten Potthoff, wunderbar schräg als Mutter Anne, Ogün Derndeli als der besser schießende Mitbewerber Robert, Niklas Hugendick als lebensweiser Kuno und anderen Rollen (unter anderem als Georg Schmidt) vervollständigen das Ensemble.
Ein weiteres Highlight des Stückes ist die Choreographie (Moira Fetterman). Auch hier ist alles aus einem Guß, zusammen mit der Musik, dem spielfreudigen Gesamt-Ensemble, das sich im Verlauf des Stückes - auch gesangstechnisch - immer mehr steigert. Und last but not least ist der Regisseur Ingmar Otto zu nennen, der in Paderborn unter anderem auch den "Kleinen Horrorladen" inszenierte und dessen Ideen dieses Stück zu einem wahren Freuden-Feuerwerk macht. 
So erleben wir ein Gesamtkunstwerk, wie es schräger, intimer, tragischer, witziger, und lebendiger kaum sein könnte. Das Paderborner Premierenpublikum feierte das Ensemble begeistert und hätte sich gern über eine zweite Zugabe gefreut. Unsere Empfehlung: Auf jeden Fall hingehen! 


Die Band:

Klavier Sebastian Müller 
Trompete Jonas Spieker / Daniel Reichert 
Saxophon Sven Hoffmann / Thorsten Floth 
Drums Clemens Ohlendorf / Sven Pollkötter 
Kontrabass Daniel Le-Van-Vo / Marius Strootmann 
Gesang / Vocalpercussion Anna Borsdorf / Feli Ammer 

Musik und Gesangstexte von Tom Waits 
Regie und Stage Design der Originalproduktion von Robert Wilson 
Original Orchestration von Tom Waits und Greg Cohen 
Buch von William S. Burroughs 

Weitere Vorstellungen:

06.09. / 20.09. / 26.09. / 28.09. / 04.10. / 10.10. / 12.10. / 17.10. / 20.10. / 26.10. 

Mittwoch, 22. Mai 2019

Anthroposophen eine „Großmacht“ in der alternativen Szene?



Von NNA-Korrespondent Wolfgang G. Voegele
BUCHBESPRECHUNG | Der Religionshistoriker und Steiner-Biograf Prof. Zander hat den Anspruch, eine Kartographie der anthroposophischen Bewegung zu liefern. Wolfgang G. Voegele empfand jedoch das Werk in großen Teilen unzulänglich. 

PADERBORN (NNA) – Im Rahmen des 100jährigen Jubiläums der Waldorfschule sind eine ganze Reihe von Publikationen zum Thema Waldorfpädagogik, ihrer Geschichte und ihrer Grundlagen erschienen. Der Schweizer Religionshistoriker und Steiner-Biograf Prof. Helmut Zander hat das Jubiläumsjahr jetzt offensichtlich ebenfalls zum Anlass genommen, sich erneut mit dem Thema Anthroposophie zu befassen – die Waldorfpädagogik eingeschlossen. 
Der Untertitel seines Buches Die Anthropsophie verspricht eine Darstellung von „Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik“ und der (katholische) Schöningh-Verlag erläutert in einem Werbetext die Intention des Werkes: „Die Anthroposophie ist eine esoterische Großmacht: Waldorfschulen, Demeter-Möhren, Weleda-Heilsalbe, Esoterische Schulen, Universitäten – Helmut Zander dokumentiert ihr öffentliches und zugleich verborgenes Netzwerk.“ Zander versuche – so der Werbetext weiter – die für den Laien schwer überschaubare Welt der Anthroposophen zu kartieren. Offenbar war es die Absicht des Autors, ein populäres, leicht verständliches Werk zu schreiben. ... weiterlesen auf NNA >

Donnerstag, 16. Mai 2019

Quälende Unsicherheiten

 

 

Vortrag über die radikalisierte Gesellschaft im Theater Paderborn


Quälende Unsicherheiten sind zum Kennzeichen unserer Zeit geworden. Viele Menschen fühlen sich von dem rasanten Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen überfordert und wenden sich Extremen zu, die ihnen wieder Klarheit darüber verschaffen, was richtig oder falsch ist und wo der Freund und wo die Feinde stehen. Rassisten, Nationalisten, fanatische Tierschützer, zu allem entschlossene Abtreibungsgegner oder kämpferische Veganisten werden zu einer Gefahr für eine demokratische Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit, Fairness, Solidarität und Kompromissbereitschaft beruht.
Unter dem Titel „Quälende Unsicherheiten. Nährboden für Radikalisierung und Fanatismus“ hält an diesem Samstag um 19 Uhr der Persönlichkeits- und Sozialpsychologe, Prof. Ernst-Dieter Lantermann, im Theatertreff des Theater Paderborn einen Vortrag  über die gesellschaftlichen Folgen einer zunehmenden Radikalisierung in modernen Gesellschaften. Lantermann erforscht seit Jahrzehnten, wie sich Menschen in unsicheren und selbstwertbedrohlichen Situationen verhalten. In seinem 2016 erschienenen Buch „Die radikalisierte Gesellschaft – von der Logik des Fanatismus“ analysiert er soziale und individuelle Bedingungen einer zunehmenden Radikalisierung.

Der Vortrag findet im Rahmen des Aktionstags der Initiative gegen Rechtspopulismus „Die Vielen“ im Theater Paderborn statt zu dessen Erstunterzeichnern das Schauspielhaus am Neun Platz gehört. Im Anschluss gibt es Gelegenheit, mit Prof. Lantermann ins Gespräch zu kommen. Der Eintritt ist frei.

Quelle: Pressemitteilung Theater Paderborn
Foto: Prof. Ernst-Dieter Lantermann ©Alex Schmitt

Montag, 13. Mai 2019

Auf dem Weg zum Algorithmen-Faschismus

Der nachfolgende Beitrag stammt aus dem Aprilheft der anthroposophischen Monatszeitschrift Die Drei mit dem inhaltlichen Schwerpunkt auf Digitalisierung/Neue Mobilfunkstandards/5G etc. Wir veröffentlichen diesen Text mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.


Wie unbemerkt – durch unsere Mithilfe – ein neues totalitäres Herrschaftssystem entstehen könnte


von Otto Ulrich


Zugegeben, es wirkt zunächst befremdlich, den Aufstieg, den bisherigen Verlauf und die Struktur der aktuellen Debatte um »Künstliche Intelligenz«, die »Digitale Revolution« und die »Gesellschaft 4.0« einmal durch eine ganz spezielle Brille, nämlich unter faschismustheroretischen Vorzeichen, zu betrachten – es ist aber dringend geboten. Denn es geht um nichts geringeres als den Schutz unserer Demokratie, unserer Freiheit und unserer Rechtsstaatlichkeit. Die anwachsende Herrschaft »intelligenter« Maschinen, die uns zunehmend abschaffen, gängeln und kontrollieren, bedroht alles, was unsere Gesellschaft menschlich macht.

Leider wollen viele Zeitgenossen diese Gefahr nicht zur Kenntnis nehmen. Das ist verständlich, denn für das bloße Auge bleibt vorerst noch verborgen, was dem Blick durch die entsprechende theoretische Brille jetzt schon offenbar wird: Dass sich als Konsequenz des durch die Digitalisierung angestoßenen Wandels Stück für Stück ein »faschistisches Minimum« anhäuft. Außerdem hat es in bürgerlichen Kreisen durchaus Tradition, den Gedanken, dass eine Revolution von oben« unterwegs ist, die Menschenrechte und Demokratie beseitigen soll, instinktiv abzuwehren. Von den tonangebenden Protagonisten und Propagandisten der Digitalisierung wird diese Gefahr jedenfalls nicht ernsthaft erwogen. Doch historisch gesehen hat gerade eine solche Blindheit den zeitweiligen Siegeszug des Faschismus begünstigt.

Allzu selten sind kritische Stimmen wie die von Carolin Emcke, die neulich in der ›Süddeutschen Zeitung‹ unter dem Titel: ›Facebook macht Moral zum netten Accessoire‹ bemerkte: »Algorithmen beinflussen nicht nur das Kaufverhalten von Konsumentinnen und Konsumenten, sie entscheiden mitunter auch darüber, welche Studierende an welchen Hochschulen angenommenen werden, welche Menstruationszyklen als gesund oder ungesund gelten oder wem ein Kredit gewährt wird und wem nicht oder ob ein nächster Pflegegrad erreicht ist. Welche rassistischen Vorannahmen, welche Körperbilder, welcher Klassendünkel sich als unreflektierte Normen in die Programme eingeschrieben haben und systematische Diskriminierung betreiben, bleibt intransparent.«1

Die Frage lautet also, ob sich die Anhäufung eines »faschistischen Minimums« innerhalb der digitalen Revolution nachweisen lässt. Mit den beim Wort »Faschismus« sofort aufsteigenden Bildern von Führerkult, Massenkundgebungen, uniformierten Schergen und Konzentrationslagern hat das Gemeinte selbstverständlich nichts zu tun. Der althergebrachte Faschismus- Begriff, den die ehemalige US-Außenministerin Madelaine Albright in ihrem Buch ›Faschismus – Eine Warnung‹ ausgesprochen hat, hilft uns deshalb nicht weiter: »Für mich ist ein Faschist jemand, der mit allen Mitteln versucht, Macht zu erlangen, diese auf sich zu vereinen und zu behalten – notfalls mit Gewalt. Jemand, der weder an die regulative Kraft demokratischer Institutionen glaubt noch an die Pressefreiheit.«2 Ich möchte demgegenüber die These aufstellen, dass wir es heute mit einem nicht mehr personalisierbaren, rein technologisch erzeugten Faschismus zu tun haben, der sich gerade, als Folge systemischer Notwendigkeiten und Erfordernisse, wie nebenbei »einschleift«.

Hannah Arendt hat einmal bemerkt: »Über der Sinnlosigkeit der totalitären Gesellschaft thront der Suprasinn der Ideologien, die behaupten, den Schlüssel der Geschichte oder die Lösung aller Rätsel gefunden zu haben.«3 Eine solche Heilserwartung richtet sich heute auf die Digitalisierung. Doch mit der schleichenden Integration algorithmischer Entscheidungsprozesse in den Alltag und der Einrichtung einer entsprechenden Infrastruktur wird notwendig die allmähliche Unterwerfung des Menschen unter eine Herrschaft der Maschinen betrieben.

Für Arendt ist es außerdem ein Merkmal totalitärer Herrschaft, »wenn das radikal Böse im Zusammenhang eines Systems aufgetreten ist, welches in der Lage ist oder es versucht zu erreichen, dass alle Menschen gleichermaßen überflüssig werden. [...] Die ungeheure Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen, ist, dass dauernd Massen von Menschen ›überflüssig‹ werden. Es ist, als ob alle entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tendenzen der Zeit in einer heimlichen Verschwörung mit den Institutionen sind, die dazu dienen könnten, den Menschen wirklich als Überflüssige zu behandeln und zu handhaben.4 Genau dieses Zusammenspiel politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Tendenzen, die den Menschen zunehmend überflüssig machen, ist bei der Digitalisierung am Werk.

Dass mit der Künstlichen Intelligenz eine Meta-Maschine heranwächst, die sich menschlicher Kontrolle und Korrektur zu entziehen droht, erkennt auch ein Experte wie Wolfgang Wahlster vom ›Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz‹ (DFKI) in Saarbrücken:

»Ich finde es beunruhigend, dass wir nicht immer genau wissen, wie neuronale Netze ein bestimmtes Resultat erzielen.« Gerade deshalb müsse man »den Nutzen für den Menschen im- mer in den Mittelpunkt der KI-Forschung stellen«.5 Die Anwendung Künstlicher Intelligenz müsste also unbedingt unter demokratische Kontrolle gestellt werden, um diesen Nutzen zu gewährleisten. Insofern weist die von dem Philosophen Richard David Precht geforderte Ethikdebatte zum Problem der Künstlichen Intelligenz in die richtige Richtung.6 Doch sie wird nicht genügen, um den weltweiten Hype um die Digitalisierung zu brechen. Und unser politisches System steht strukturell auf Seiten der Macher und Umsetzer, die schon dabei sind, dem Durchschnittsbürger eine Herrschaftstechnologie überzustülpen, die dieser – meist ahnungslos und inzwischen fast alternativlos – selbst mit seinen Daten in Gang hält.

QR-Code als Identität

Welche Entwürdigung des Menschen mit der Digitalisierung einhergeht, lässt sich besonders deutlich in China beobachte, wo z.B. die Abschaffung des Bargeldes kräftig voranschreitet.

»Selbst Pekinger Bettler akzeptierten Almosen per QR-Code«7, vermeldete begeistert ein Artikel in der ›Welt‹ – als ob es begrüßenswert sei, dass Bettler dadurch wie Waren im Supermarkt abgescannt werden, eine informationelle Kaste der Unberührbaren, die nur noch eine gesellschaftliche Identität haben, wenn ihre Daten mit einem Smartphone auslesbar sind. (Und sie offenbar über ein Bankkonto verfügen.) Dennoch könnte man es für übertrieben halten, solche Erscheinungen als faschistoid zu bezeichnen. Doch unbestreitbar ist die Geschichte des Faschismus 1945 nicht zu Ende gegangen. Auf der ganzen Welt existieren bis heute Gruppen und Strömungen, die sich am faschistischen Leitbild orientieren. Diese ungebrochene Aktualität bestätigt eine Grundannahme der Faschismustheorie, wonach dieser ein Produkt der kapitalistischen Verhältnisse bzw. der von ihm verursachten sozialen Krisen ist, woraus die Suche nach anderen Gesellschaftsmodellen als dem der Demokratie erwächst, das mit dem Kapitalismus identifiziert wird. Die angestrebte integrierte Gemeinschaft hingegen ist streng hierarchisch strukturiert, mit einer kleinen Funktionselite an der Spitze, die ungehindert durchregiert. Diese muss aber nicht unbedingt aus Offizieren oder Parteikadern bestehen. Es könnten genauso gut Technokraten sein.

Zugleich verspricht das faschistische Kollektiv die Aufhebung der durch Klassenunterschiede und Konkurrenz verschärften Entfremdung der Menschen, die Überwindung der Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus. Das geschieht durch einen alle Bereiche der Gesellschaft durchdringenden Prozess der Vereinheitlichung, der im Nationalsozialismus als »Gleichschaltung« bezeichnet wurde – übrigens ein Begriff aus der Elektrotechnik. Dass eine solche Gleichschaltung mit den heutigen technischen Möglichkeiten noch viel umfassender und zugleich wesentlich subtiler möglich wäre, leuchtet unmittelbar ein.

Blicken wir noch einmal nach China: »Kamera-Überwachung auf der Grundlage von KI«, berichtete unlängst die ›Gesellschaft für bedrohte Völker‹ »wird auch in Xinjiang in den Umerzie- hungslagern eingesetzt, in denen rund 1,1 Millionen Uiguren, Kasachen und Kirgisen gegen ihren Willen festgehalten werden.«8 Die Unterdrückung kann aber auch weniger offenkundig ausfallen. Bekanntlich wird in China mithilfe Künstlicher Intelligenz und Data Mining ein »Sozialkreditsystem« aufgebaut, das der Verhaltenssteuerung dient. Alle verfügbaren Informationen über eine Person – sei es aus Kamera- oder Tonaufzeichnungen, Berichten von Nachbarschaftskomitees, dem Verhalten im Internet, aus Kaufentscheidungen und finanziellen Transaktionen usw. – werden gesammelt, je nach politischer Erwünschtheit mit Bonus- bzw. Maluspunkten bewertet und zu einem »Sozialrating« verdichtet. Dieses wird dann mit Erleichterungen bzw. Erschwernissen etwa bei Kreditaufnahme, Wohnungsverkauf, Jobsuche, Schul- oder Autozulassung usw. verknüpft.9 Wer da nicht zu den Verlierern gehören will, muss sich sozusagen selbst gleichschalten.

Wie also verhindern wir, dass wir dem Beispiel Chinas folgen und die Künstliche Intelligenz zu einer Herrschaftstechnologie wird? Zunächst einmal muss diese Gefahr, die Verwundbarkeit unserer Demokratie im allgemeinen Bewusstsein einen solchen Stellenwert einnehmen wie heute schon die Gefährdung unseres Planeten durch den Klimawandel. Dann müssen Gegenstrategien formuliert werden, die dem Datenhunger der Technologie-Konzerne, aber auch dem staatlicher Institutionen entgegenwirken. Ein Schritt könnte z.B. sein, den Datenschutz zum Grundrecht zu erheben. Wir sind schon kurz davor, dass ein Leben ohne Smartphone mit schweren Nachteilen ökonomischer und sonstiger Art verbunden ist. Wenn aber die Digitalisierung dazu führt, dass ein analoges Leben, zumal ein Leben außerhalb des Internets und der Mobilfunknetze, nur noch außerhalb unserer Gesellschaft möglich ist, dann hat diese die Schwelle zum Totalitarismus bereits überschritten. Dann bedarf es erst recht höchster Wachsamkeit, um die der Digitalisierung inhärente Tendenz zur Ablösung des menschlichen Geistes durch künstliche Intelligenz entgegenzuwirken und die Errichtung eines Algorithmen-Faschismus zu verhindern.


1 Vgl. Carolin Emcke: ›Facebook macht Moral zum netten Accessoire‹, in: ›Süddeutsche Zeitung‹ vom 16. Februar 2019.

2 Vgl. Madeleine Albright: ›Faschismus. Eine War- nung‹, Köln 2018, S. 21.

3 Hannah Arendt: ›Denken ohne Geländer‹, Mün- chen 2017, S. 126.

4 A.a.O., S, 129.

5 Vgl:. Wolfgang Wahlster: ›Ein autonom fahrendes Auto erkennt bei Nacht kein Wildschwein‹, in: ›Die Zeit‹ vom 26. Juli 2018.

6 Vgl. Richard David Precht: ›Maschinen ohne Moral‹, in ›Der Spiegel‹ 48/2018

7 www.welt.de/sonderthemen/noahberlin/article176965303/Bargeldloses-Bezahlen-gehoert-in-China-zum-Lebensalltag.html

8 www.gfbv.de/de/news/china-microsoft-soll-ver- bindungen-zu-chinesischem-ki-entwickler-abbre- chen-9595/

9 Vgl. Stefan Baron & Guangyan Yin-Baron: ›Die Chinesen. Psychogramm einer Weltmacht‹, Berlin 2018 S. 327ff.

wundern geschieht immer wieder ...

Vergangen vergessen vorüber vergangen vergessen vorbei die zeit deckt den mantel darüber vergangen vergessen vorbei freddy quinn Als Deut...