Montag, 3. September 2018

Andorra im Theater Paderborn


TdZ-Autor Erhard Hofmann hat sich im Theater Paderborn das erste Stück der neuen Spielzeit angesehen. Sein Fazit: "... hier wird Frischs Intention deutlich, das Versagen angeblich humanistischer und demokratischer Zivilgesellschaften offen zu legen in Zeiten, in denen couragiertes und waches Individualverhalten vonnöten wären."

Das Ensemble - Foto Kreft

Schon im Vorfeld der Premiere von Max Frischs Klassiker „Andorra“ hat das Theater Paderborn für reichlich Gesprächsstoff gesorgt: In einer Grafik im Programmheft zur gesamten Spielzeit werden die Entwicklung der Wahlergebnisse von NSDAP in den 30er Jahren und AFD heute sowie die Zahl der antisemitischen Straftaten im Jahr 2017 und die Zahl der ermordeten Menschen während des Holocaust dargestellt. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt?
Frischs Parabel von 1961 muss als Erklärungsversuch gesehen werden, welche Mechanismen in einer Gesellschaft greifen müssen, damit ein menschenverachtendes Schreckensregime wie der Nationalsozialismus sich in einer von den Werten des Humanismus durchdrungenen Zivilgesellschaft breitmachen kann. Und natürlich muss die Frage erlaubt sein, wie es möglich ist, dass antisemitisches, rassistisches und xenophobes Gedankengut auch heute wieder breite Bevölkerungsschichten bis in die Mitte unserer Gesellschaft erfassen kann.
Diese Frage hat Tim Egloff in seiner Paderborner Inszenierung, mit der die Spielzeit 2018/19 eröffnet wurde, zum Thema gemacht. Die Geschichte ist schnell erzählt: Andri (Tim Tölke) wächst in der fiktiven und doch real existierenden Kleinstadt Andorra als angeblich jüdischer Pflegesohn des Lehrers Can (Alexander Wilß) auf. In Wahrheit entspringt er jedoch einer unehelichen Liaison mit einer Ausländerin (Kirsten Potthoff) aus dem feindlichen Nachbarstaat, den sogenannten „Schwarzen“. Diese Lebenslüge des Vaters kommt erst ans Tageslicht, als Andri sich in seine Halbschwester Barblin (Gesa Köhler) verliebt und um deren Hand anhält. Über den frömmelnden Pater Benedikt (Jacob Keller) erfährt er schließlich seine wahre Identität.Die kleinbürgerlich-spießigen und in ihren Ängsten verhafteten Bewohner Andorras, als da wären der Soldat (Carsten Faseler), der Tischler (Patrick O. Beck), die Doktorin (Mona Kloos), der Wirt (Ogün Derendeli) und der Geselle des Tischlers (Robin Berenz), begegnen Andri permanent mit Vorurteilen, mit reichlich plumpen Ausgrenzungsversuchen und unerträglichen Erniedrigungen, so dass er, selbst nachdem er seine wahre Herkunft erfahren hat, an der ihm zugewiesenen jüdischen Identität festhält. Am Ende steht nach dem Einmarsch der „Schwarzen“ seine Ermordung durch das rassistische Nachbarvolk.
Egloffs stringente Inszenierung teilt die 12 Szenen des Stückes in zwei Blöcke mit einer Pause nach dem neunten Bild. Der Bühnenraum, gestaltet von Selina Traun, ist im ersten Teil begrenzt durch drei riesige, weiße Styroporwände, nur an der Rückwand führt ein mächtiger Holzbalken diagonal durch die Wand. In gleißend weißem Licht versucht Barblin zu Beginn nicht zu weißeln, wie es die Textvorlage eigentlich vorsieht, sondern die Fugen der trotz ihrer Mächtigkeit brüchig wirkenden Wand zu kitten. Zwischen den Szenen treten die Andorraner einer nach dem anderen in kurzen Passagen aus der Handlung heraus. In ihren fadenscheinigen Erklärungen rechtfertigen sie ihr Fehlverhalten und ihre erbärmliche Feigheit. Die Jämmerlichkeit der Figuren wird wunderbar unterstützt durch ihre Kostümierung (Kostüme ebenfalls Selina Traun), die bei allen das Klischeehafte ihrer Person verstärkt. Die Bewegungen dieser namenlosen Gestalten auf der Bühne sind oft stakkatoartig, wenig individualisiert, die Laufwege bis in die kleinste Linie choreografiert, selbst die Vergewaltigung Barblins durch den Soldaten ist stilisiert dargestellt. Da ist kein Leben, keine Empathie, keine Emotion, nichts! Hier wird Frischs Intention deutlich, das Versagen angeblich humanistischer und demokratischer Zivilgesellschaften offen zu legen in Zeiten, in denen couragiertes und waches Individualverhalten vonnöten wären. Allein Andri und seine Halbschwester Barblin treten als Menschen mit einem Gewissen und einem Empfinden für Wahrheit auf. In einem tief erschütternden Monolog schreit sich Andri sein Anderssein von der Seele, klagt seine Heimatlosigkeit, seine angebliche Feigheit, seine Angst, sein anders Fühlen und sein Erschrecken über sich selbst an, erkennt sich als Inkarnation des Bösen, die jedoch nötig erscheint, um die anderen in ihrer Welt des kollektiven Vorurteils überleben zu lassen. 
Im zweiten Teil ist die weiße Wand weg. Eine Armada von Scheinwerfern und eine schwarz-grau-weiße Fahne begrenzen nun den öffentlichen Platz, öffnen der Invasion durch die „Schwarzen“ Tür und Tor. Es herrscht Angst und Schrecken, in einer öffentlichen Zurschaustellung, in der ein sogenannter Judenschauer (Kirsten Potthoff) Juden angeblich an ihrem Gang erkennt, wird das Finale eingeläutet. Hier übertreibt Egloff in unnötiger Weise. Die in laszivem, knallroten Dominakostüm und Wolfskopf ausgestattet Judenschauerin sowie die aggressive und laute Rockmusik nehmen viel von der zuvor so stringent aufgebauten Dramatik weg und machen daraus eine Slapsticknummer. Ihr lasziver Abgang vorbei am völlig verstörten Popen schafft Raum für das eindringliche Schlussbild, in dem Barblin, nun verrückt geworden, wieder weißelt, diesmal ihren eigenen Körper, ein vergeblicher Versuch, ihre eigene Unschuld wieder zu gewinnen. Danach gab es standing ovations, Minuten lang, vor allem für einen wunderbaren Tim Tölke als Andri, aber auch für eine ausgezeichnete Gesamtensembleleistung. 

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Oha alles neu macht der September. Ich hab ja fast nix wieder erkannt. Gründlich aufgeräumt.
(barbara2)

wundern geschieht immer wieder ...

Vergangen vergessen vorüber vergangen vergessen vorbei die zeit deckt den mantel darüber vergangen vergessen vorbei freddy quinn Als Deut...