Mit "Theosophische Luftschlösser" ist der Beitrag im Tagesspiegel überschrieben, der sich mit Helmut Zanders neuestem Buch "Anthroposophie in Deutschland" beschäftigt. Zander ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte und lehrt an der Humboldt-Universität Berlin.
Versuch der Rezension einer Rezension im Tagesspiegel von heute
Nachdem er die verschiedenen Arbeits und Praxisfelder der Anthroposophie vorgestellt hat, woran niemand vorbeikommt, der sich mit Rudolf Steiner beschäftigt, fragt der Rezensent Andy Hahnemann: "Menschheitslehrer oder esoterischer Phantast", um festzustellen, dass Steiner für die einen so und für die anderen so gesehen wird.
Raten darf man, wer was sieht, aber die Auflösung ist nicht allzu schwer, denn die einen sind die Insider der anthroposophischen Bewegung und für die anderen sei Steiner, so sie denn "überhaupt von ihm Kenntnis genommen haben", ein "esoterischer Phantast mit obskuren oder autoritären, auf jeden Fall aber sehr problematischen Ansichten". Damit ist also schon einmal klargestellt, was Steiner für alle Nichtanthroposphen ist.
Messerscharf diagnostiziert Herr Hahnemann, dass es Weniges gibt, auf das man sich einigen könnte. Immerhin, an den biographischen Rahmendaten lässt sich nichts deuteln, die sind, wie sie sind. Und auch an der "veritablen Prägekraft" die auch Kritikern der anthroposophischen Weltanschauung Respekt abnötigen, kommt er nicht vorbei.
Nun aber geht es zum Kern der Sache, denn aus dem "mittelmäßigen Goethe-Philologen, philosophisch ambitionierten Kulturredakteur und zeitweilig überzeugten Individualanarchisten und Nietzscheaner" Rudolf Steiner wird eine der charismatischsten Führergestalten der esoterischen Szene im Wilhelminischen Deutschland und der Weimarer Republik.
Es geht, so entnehme ich der Rezension, in Zanders Werk darum, darzulegen, wie es gelang, "einen an sich recht unbedeutenden Zweig der theosophischen Gesellschaft in einen Brutplatz wichtiger Reformansätze in Pädagogik, Landwirtschaft, Architektur und Medizin zu verwandeln."
"Zanders monumentale Studie Anthroposophie in Deutschland ist, um es vorwegzunehmen, ganz zweifellos auf Jahre hinaus als das Standardwerk zu betrachten, an dem niemand, der sich in irgendeiner Form mit theosophischen oder anthroposophischen Themen beschäftigt, vorbeikommen wird", schreibt der Rezensent und vermutlich wird er damit wohl auch Recht haben. In welcher Weise diese Auseinandersetzung dann allerdings geschieht, bleibt abzuwarten.
Der Autor erkennt in Zanders 2000seitigem Werk Belege dafür, dass die Anthroposophie von einer "weiterentwickelten Form der Theosophie bestimmt ist" und damit "sehr genau die Abhängigkeit Steiners von seinen theosophischen Quellen belegt". Deswegen könnte die "Originalitätsbehauptung Steiners kaum aufrechterhalten werden."
Die weiteren Ausführungen besagen im Klartext nicht mehr, als dass Steiner abgeschrieben hätte: "Das angeblich autonom Geschaute stellt sich bei näherer Betrachtung als intertextuelles Netzwerk da, in dem die Grundlagen der anthroposophischen Weltanschauung - Karma, Reinkarnation, die Wege zur ‚Erkenntnis der höheren Welten’, die Lehre von den Körperhüllen usw. - allesamt dem esoterischen Schrifttum des ausgehenden 19. Jahrhunderts entlehnt sind." Die theosophische Textproduktion um 1900 erweise sich bei näherer Betrachtung "als Prozess eines universalen Kannibalismus", indem man wechselseitig voneinander abgeschrieben hätte. Dies aber gelte nicht nur für Steiner.
Zander mache durch präzisen Textvergleich verschiedener Ausgaben von Steiners Schriften deutlich, "wie Steiner später versucht hat, seine besonders in den ersten Jahren nach 1900 ausgeprägte Benutzung theosophischer Literatur im nachhinein zu verschleiern."
Zanders Einsichten, so die Erkenntnis von Hahnemann, beträfen "zentrale Funktionsweisen marginalisierter religiöser Kulturen unter den Bedingungen der Moderne" und sie schlössen damit an zentrale soziologische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen an: "etwa in der Deutung der Anthroposophie als Form charismatischer Herrschaft, in der Thematisierung frauenspezifischer Freiräume in der theosophischen Vereinskultur oder besonders auch im Anschluss an eine Popularisierungsgeschichte des Wissens."
Es bleibt hier natürlich ebenfalls abzuwarten, inwieweit die Darstellungen Zanders genaueren Überprüfungen standhalten.
Interessant vielleicht noch der Schluss, den der Rezensent aus der Lektüre des Buches zieht; so nennt Hahnemann Steiner trotz seiner "begrenzten Fähigkeiten" einen in mancher Hinsicht herausragenden Intellektuellen, obwohl er ein paar Absätze weiter oben davon spricht, dass man in Steiners Werdegang "getrost ein Beispiel unter vielen für eine orientierungslose und schließlich irrlichternde Intellektuellenbiographie der klassischen Moderne sehen" könne.
Ja, was denn nun, möchte man fragen und beginnt zu überlegen, ob man nicht doch die 246 Euro für dieses Buch...
Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und Praxis 1884-1945, 2 Bände, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 1884 S., 246 Euro.
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